Für ihre hervorragenden Graduierungsarbeiten zeichnete der Förderverein der HTWK Leipzig am Mittwoch, dem 24. Januar 2018, neun Absolventinnen und Absolventen mit dem „Preis des Fördervereins 2017“ aus. Die Verleihung fand im Rahmen der Jahresversammlung des Fördervereins statt. Für unsere Fakultät wurden zwei Preise vergeben jeweils für den Lehr- und Forschungsbereich Architektur und Sozialwissenschaften. Für ihre Bachelor-Arbeit mit dem Thema „Filmkunst wird Programm“ erhielt Anna Augstein, Architektur, einen Förderpreis. Julia Goss, Soziale Arbeit, erhielt für ihre Bachelor-Arbeit den Förderpreis und stellte die Arbeit zugleich in einem überzeugenden Vortrag vor, der im Folgenden veröffentlicht wird
Vortrag von Julia Goss (B.A.) zu ihrer Bachelor-Arbeit mit dem Thema:
Sexarbeit zwischen Viktimisierung und Dienstleistung. Relevante Aspekte für die Soziale Arbeit
„Ich fühle mich geehrt hier sein zu dürfen, nicht nur um den Förderpreis der HTWK Leipzig entgegenzunehmen, worüber ich mich natürlich sehr freue, sondern auch weil ich hier über ein Thema reden darf, das mir sehr am Herzen liegt, Sexarbeit, wie der Titel meiner Bachelorarbeit schon vermuten lässt, ein Thema, das immer noch in unserer Gesellschaft stark tabuisiert ist und in der Öffentlichkeit kaum angesprochen wird. Das führt dazu, dass Personen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, oft stigmatisiert, diskriminiert, marginalisiert und nicht zuletzt auch viktimisiert werden.
Bevor ich inhaltlich fortfahre, möchte ich zunächst einige wichtige Begriffe erläutern:
Sexarbeit: Wieso habe ich diesen Begriff verwendet und nicht Prostitution? Das liegt daran, dass der Begriff Prostitution moralisch konnotiert ist und mit Unsittlichkeit und negativen Eigenschaften, wie ein devianter Umgang mit Sexualität, assoziiert wird. Trotzdem wird er beispielsweise in der Gesetzgebung weiterhin verwendet. Sexarbeit hingegen betont, dass das Anbieten sexueller Dienstleistungen eine Erwerbstätigkeit darstellt. Deswegen bevorzuge ich diesen Begriff, wie auch viele Sozialwissenschaftler*innen und Befürworter*innen der Sexarbeit. Das soll aber nicht heißen, dass es in diesem Bereich keine Opfer geben kann.
Deswegen bin ich in meiner Bachelorarbeit auch auf den wichtigen Aspekt der Viktimisierung eingegangen, also auf das Zum-Opfer-Werden oder Zum-Opfer-Machen.
Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, welchen Bezug ich zur Sexarbeit habe, wieso ich mich für dieses eher außergewöhnliche Thema entschieden habe? Meine Verbindung dazu ist einerseits mein fachliches Interesse als Sozialarbeiterin an der Zielgruppe der Sexarbeitenden, die sehr vielfältig und spannend ist, andererseits auch meine Herkunft, denn viele Frauen aus Rumänien, dem Land in dem ich geboren bin, sind in Leipzig als Sexarbeiterinnen tätig. Einige von ihnen tun das selbstbestimmt und freiwillig, andere werden gewaltsam dazu gezwungen. Die Differenzierung ist oft schwierig, sodass Sexarbeit meistens in dem großen Graubereich zwischen Viktimisierung und Dienstleistung stattfindet.
Da ich hier nicht meine gesamte Bachelorarbeit vorstellen kann und auch schon einiges auf meinem Poster dargestellt ist, werde ich nur auf einen Aspekt näher eingehen, und zwar auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der rumänischen Sexarbeiterinnen in Leipzig. Das trifft aber auch auf die meisten anderen Sexarbeiterinnen mit Migrationshintergrund zu. Mein Ziel dabei ist, möglichst viele Menschen auf ihre Situation aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren, denn viele wissen gar nicht, dass es sie überhaupt in Leipzig gibt. Sexarbeit spielt sich hier nämlich im Verborgenen ab und ist größtenteils unsichtbar. Das liegt daran, dass sexuelle Dienstleistungen meist in Wohnungen angeboten werden, die in Wohngebieten liegen und von außen kaum als Etablissements identifiziert werden können. Die meisten Frauen wechseln die Wohnung wöchentlich. Ein Grund dafür ist die große Nachfrage nach neuen Frauen und nach einem abwechslungsreichen Dienstleistungsangebot. Ein weiterer Grund ist, dass durch diese ausgeprägte Mobilität organisierte Kriminalität schwerer aufzuspüren ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Frauen in diesen Wohnungen nicht nur arbeiten, sondern dort auch leben.
Die Miete muss täglich bezahlt werden. Wenn eine Frau alleine arbeitet, muss sie in Leipzig 70 € pro Tag bezahlen, unabhängig von ihren Einnahmen. Wird die Miete drei Tage in Folge nicht bezahlt, muss die Sexarbeiterin die Wohnung verlassen. Sie verliert folglich nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihr Obdach. Der finanzielle Druck ist somit sehr groß, insbesondere an Tagen mit wenig Kundschaft oder wenn die Sexarbeiterin krank ist. Deswegen bieten die Frauen in solchen schwierigen Zeiten, wie beispielsweise jetzt im Januar, Praktiken an, die sie sonst ablehnen würden oder arbeiten für weniger Geld oder arbeiten ohne Kondom, wonach eine sehr große Nachfrage besteht. Aufgrund des neuen Prostituiertenschutzgesetzes, auf das ich später noch zurückkomme, besteht seit Juli 2017 eine Kondom-pflicht. Dies hat aber die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen ohne Kondom um ein Vielfaches erhöht.
Die rumänischen Sexarbeiterinnen haben meist keine Krankenversicherung und sind auch über sexuell übertragbare Krankheiten und Verhütung nur wenig informiert. Viele leben von der Außenwelt isoliert und haben kaum Möglichkeiten, unter anderem auch aufgrund von Sprachbarrieren, sich im Notfall, z.B. wenn sie Opfer einer Straftat werden, Hilfe zu organisieren. Die meisten von ihnen haben Kinder, die im Herkunftsland leben. Zudem sind sie die Alleinverdienerinnen der Familie, was zusätzlich ihre Vulnerabilität und den finanziellen Druck erhöht.
Das klingt jetzt alles sehr negativ. Es ist auch teilweise so, aber nicht immer. Deshalb ist die Differenzierung umso wichtiger, denn nicht alle Sexarbeitenden sind per se Opfer, nur weil sie sexuelle Dienstleistungen anbieten. Ich möchte betonen, dass Sexarbeiter*innen, unabhängig von ihrer Herkunft und Lebenssituation, über mannigfaltige Kompetenzen verfügen, die von außen kaum wahrgenommen werden und deren sie sich oftmals selber gar nicht bewusst sind. Sie sind stark und haben ein unglaubliches Durchhaltevermögen.
Trotzdem kann die allgemeine Situation insbesondere der Sexarbeiterinnen mit Migrationshintergrund als prekär bezeichnet werden und der Aspekt der Viktimisierung, also des Zum-Opfer-Werdens, spielt durchaus eine wichtige Rolle. Über mehrere Jahre hat eine kontroverse Debatte zu einem Gesetz stattgefunden, das das Ziel hat, Personen, die in der Sexarbeit tätig sind, besser zu schützen und gleichzeitig ihr Selbstbestimmungsrecht zu stärken. Im Juli 2017 ist darauf hin, trotz starker Proteste zahlreicher Interessenvertreter*innen, dieses neues Gesetz in Kraft getreten: das Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (kurz: Prostituiertenschutzgesetz). Wie der ausführliche Name schon sagt, soll aber mit dem Gesetz primär der Bereich Sexarbeit reglementiert werden. Für die Sexarbeitenden bedeutet das konkret, dass sie sich als „Prostituierte“ anmelden müssen, vorher aber noch an einer gesundheitlichen Pflichtberatung teilnehmen und sich dies bescheinigen lassen müssen. Im Rahmen dieser Beratung, die in einem bestimmten Turnus wiederholt werden muss, soll eine Vertrauensbasis geschaffen werden, um vor allem Opfer zu erreichen. Die Sexarbeitenden bekommen dann einen „Prostituiertenausweis“ mit Lichtbild, den sie bei der Arbeit immer dabei haben müssen. Dieser Ausweis verstärkt die Stigmatisierung und stellt zudem ein Sicherheitsrisiko dar, denn Sexarbeitende könnten damit erpresst werden. Für die Anmeldung und die Gesundheitsberatung können Gebühren anfallen. Die Gebührenerhebung wird heftig kritisiert, denn sie widerspricht völlig der Intention des Opferschutzes.
Das Prostituiertenschutzgesetz hat zwar eine bundesweite Gültigkeit, allerdings ist die Umsetzung Ländersache. Dazu bedarf es aber auf Landesebene einer Durchführungsverordnung oder eines Ausführungsgesetzes. Sachsen ist eines der wenigen Bundesländer, das noch kein Ausführungsgesetz hat. Es existiert seit Anfang Januar 2018 immerhin ein Gesetzesentwurf, das aber noch nicht verabschiedet wurde. Diese Unsicherheit bezüglich der gesetzlichen Umsetzung sowie die starke Reglementierung und zusätzliche Stigmatisierung aufgrund des Prostituiertenausweises sind äußerst problematisch. Kritiker*innen erwarten eine massive Abwanderung in die Anonymität, insbesondere der Personen, die hauptsächlich geschützt werden sollten. Die Identifizierung und Unterstützung der potentiellen Opfer wird dadurch noch mehr erschwert. Zudem bieten sie in keinster Weise die erhoffte Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der freiwilligen Sexarbeitenden, so wie es in der Zielsetzung des Gesetzes formuliert ist.
Reglementierungen oder andere restriktive politische Handhabungen wie abolitionistische oder gar prohibitionistische Ansätze, die ihren Ausdruck beispielsweise in der Bestrafung der Freier (wie im Schwedischen Modell) oder allgemein aller Personen, die in der Sexarbeit involviert sind, tragen nicht zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Sexarbeitenden bei. Deshalb fordern Sexarbeiter*innen weltweit die vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit. Das einzige Land bisher, das diese Forderung umgesetzt hat, ist Neuseeland. Die Evaluation des neuseeländischen Entkriminalisierungsmodells hat eine signifikante Abnahme der Vulnerabilität dieser Personengruppe sowie eine Verbesserung in der Wahrung ihrer Menschenrechte gezeigt. Denn nur in einem entkriminalisierten Umfeld können, unter Beteiligung der Sexarbeitenden selber, Standards für gute Arbeitsbedingungen entwickelt und umgesetzt werden. Dazu gehören z.B. die soziale Absicherung und geeignete akzeptierende Beratungsangebote, und zwar jenseits der klassischen Ausstiegsberatung, denn nicht alle Sexarbeiter*innen wollen oder müssen „gerettet“ werden. Damit soll auch letztendlich erreicht werden, dass Sexarbeit als Erwerbstätigkeit anerkannt wird und dass Sexarbeiter*innen den Respekt erfahren, den sie unbedingt verdienen, denn: „Sexarbeit ist Arbeit! [und verdient] Respekt!“
An dieser Stelle möchte ich mich noch ganz herzlich bei den Personen bedanken, die mich während meines gesamten Studiums unterstützt und begleitet haben, und sich im Rahmen meiner Bachelorarbeit auf das nicht ganz einfache Thema Sexarbeit voller Neugierde und Toleranz eingelassen haben: Frau Professorin Doktorin Anja Pannewitz und Herr Professor Doktor Lothar Stock. Ich danke Ihnen für Ihre Wertschätzung, Ihren Respekt und Ihre Offenheit, die Sie mir stets entgegengebracht haben. Sie haben dadurch auch maßgeblich meine eigene professionelle Haltung als Sozialarbeiterin geprägt und mir damit etwas unschätzbar Wertvolles mit auf meinen Lebensweg und Berufsweg gegeben, etwas das nicht aus Fachbüchern gelernt werden kann. Mein Dank gebührt auch dem Förderverein der HTWK Leipzig, dafür dass ich mich zu den Gewinner*innen des Förderpreises zählen darf und auch dafür, dass ich zum Thema Sexarbeit hier sprechen durfte, was nicht selbstverständlich ist. Das zeugt auch von der Offenheit und Toleranz der Institution HTWK Leipzig, der ich ebenfalls danke. Ich fühle mich der HTWK auch genau deshalb sehr verbunden, sodass ich ihr im Rahmen meines Master-Studiums treu geblieben bin. Und auch ein herzliches Dankeschön an Sie, liebes Publikum, für Ihre Aufmerksamkeit.“
Nach diesem Vortrag zollte das Publikum der Referentin Julia Goss besonderen Respekt und Anerkennung für den Beitrag durch anhaltenden Applaus.
Die Fakultät Architektur und Sozialwissenschaft dankt dem Förderverein für das Engagement und die gute, langjährige Tradition der Preisverleihung – zugleich motiviert sie alle, Mitglied im Förderverein zu werden.