DIGITALE, DEMOKRATISCHE, SOZIAL GERECHTE STADT
Von der Mitgestaltung der Digitalisierung zur politischen Partizipation in der digitalen Gesellschaft?
Lokale und globale Ungleichheitsverhältnisse, fehlender gesellschaftlicher Zusammenhalt, Repräsentationsverdrossenheit sowie populistische und anti-demokratische Entwicklungen fordern demokratische Systeme gegenwärtig massiv heraus. Mehr politische Beteiligung lautet erneut ein Apell angesichts der wahrgenommenen Legitimationsdefizite im demokratischen Prozess. Bereits seit den 1970-er Jahren wird in der Bundesrepublik Deutschland über Beteiligung und Partizipation debattiert. Top-down und bottom-up sind innerhalb verschiedener Konjunkturen eine große Bandbreite von Ansätzen entwickelt worden. Politische Resonanz auf die Investitionen derer, die sich beteiligen, gehört bislang jedoch nicht zum Selbstverständnis repräsentativer Demokratie in Deutschland. Darüber hinaus bedingen Initiativen zur Beteiligung nicht per se eine Veränderung ungleicher Teilhabe-Strukturen. Neben der stetigen Suche nach Antworten auf gesellschafts- und demokratiepolitische Herausforderungen wird der Beteiligungsdiskurs aktuell stark durch die Digitalisierung geprägt und vorangetrieben. Kommunen digitalisieren zunehmend ihre Staat-Bürger*innen-Beziehung, setzten auf digital unterstütze Beteiligung und formulieren den Anspruch, Digitalisierung partizipativ zu gestalten.
Beteiligungsprozesse werden digitalisiert – Digitalisierung wird zum Gegenstand von Beteiligung gemacht. Wie verändern sich der Diskurs und die Praxis informeller politischer Beteiligung? Gelingt ein Diskurs- und Politikwechsel, der dazu beiträgt, demokratische Strukturen zu re-legitimieren?
Das Forschungsprojekt untersucht, inwieweit die Digitalisierung (bzw. ihre diskursive Gestaltung) die Beteiligung von Bürger*innen tatsächlich stärkt und den Beteiligungsdiskurs insgesamt transformiert. Das Projekt nimmt dabei die demokratiestärkenden Potenziale in ihrem Spannungsverhältnis zu den exkludierenden und de-politisierenden Wirkungszusammenhängen von Beteiligung in den Blick. Kann Digitalität in diesem Zusammenhang gesellschaftlichen Ausgleich befördern? Werden digitale Infrastrukturen emanzipativ genutzt?
Ausgehend von einer kritischen theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit technokratischer Governance- und Demokratieausprägung einerseits sowie mit „smarten“ Stadtentwicklungskonzeptionen andererseits, diskutiert das Projekt bestehende Ambivalenzen in Bezug auf partizipative Politikgestaltung.
Der empirische Fokus richtet sich auf die kommunale Ebene. Das Projekt fragt hier nach
- Ansätzen digital unterstützter politischer Beteiligung
- Beteiligungsangeboten, die die Digitalisierung selbst zum Gegenstand haben
- entstehenden bzw. sich verändernden Gestaltungsspielräumen
- Perspektiven auf (digitales) Empowerment
Hintergrund: Digitalisierung und Beteiligung
Digitalisierung und Smart City Konzeptionen stellen keine Modernisierungs- und Erneuerungsversprechen dar, die von vornherein Antworten auf drängende Bedürfnisse einer Mehrheit von Bürger*innen geben würden. Ausgangspunkt sind nicht soziale, ökonomische oder ökologische Krisen von Städten [und Regionen] oder die mit diesen Krisen verbundenen sozioökomomischen und -kulturellen Ungleichheitsstrukturen. Im Zentrum der Transformationsprozesse stehen zunächst die technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung (vgl. Bauriedl & Strüver: 2018: 18).
Digitalisierung umfasst jedoch gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse angesichts sich stetig erweiternder digitaltechnologischer Anwendungen und Kommunikationswege. Es handelt sich nicht um einen Prozess, dem Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Bürger*innen ausgesetzt sind (oder sein sollten) – es geht um die Frage, wie digitale Transformation im Hinblick auf eine Vielzahl lokal und global gesellschaftlicher Herausforderungen und Abhängigkeiten gestaltet wird. Der zunächst stark auf Technologie fokussierende Digitalisierungs- und Smart City-Diskurs hat den Aspekt der Gestaltung von Digitalisierung aufgegriffen. So wird der Anspruch formuliert, Stadtgesellschaft zu beteiligen, Digitalstrategien partizipativ zu erarbeiten, digitale Teilhabe zu stärken und digital-soziale Innovationen voranzutreiben. Deutschland-, europa- und weltweit erstellen Städte bspw. Beteiligungsplattformen, die eine neue – digitale – Hinwendung zur Bürgerschaft und Zivilgesellschaft signalisieren. Kommunen benennen ein Angebot zur Mitgestaltung und suggerieren neue Gelegenheiten politischer Beteiligung.
Bauriedl, S.; Strüver, A. (2018): Raumproduktionen in der digitalisierten Stadt. In: dies. (Hg.): Smart City. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten. Bielefeld: transcript, 11-32.
Forschungsfokus und Fragen
Die Digitalisierung bzw. die Gestaltung digitaler gesellschaftlicher Transformationsprozesse ließe sich demzufolge als Push hin zu mehr politischer Teilhabe und Teilnahme von Bürger*innen interpretieren. Angesichts der Erweiterung der Diskursperspektive auf Digitalisierung skizziert auch der gegenwärtige Beteiligungsdiskurs einen neuen Möglichkeitsraum für Beteiligung durch digitale Formate sowie für gestaltende Beteiligung an Digitalisierung.
Das Forschungsprojekt analysiert den Diskurs der (mit)gestaltbaren Digitalisierung, untersucht empirisch entstehende Gestaltungsspielräume und fragt nach der tatsächlichen Veränderung von Beteiligungs- und Teilhabestrukturen im Kontext kommunaler Digitalisierungsstrategien und -politiken:
Wie nehmen Akteur*innen innerhalb von kommunaler Politik und Verwaltung sowie innerhalb der Zivilgesellschaft die beteiligungs- und digitalisierungspolitische Diskursentwicklung wahr? Wie wird über Mitgestaltung gesprochen? Welche (diskurs- und politikverändernden) Ansätze werden in der Praxis hervorgebracht?
Welche Perspektive und Rolle nehmen Akteure der politischen Bildung und sozialen Arbeit in diesem Kontext ein? Auf welchem Weg und unter welchen Voraussetzungen kann zu positiven Beteiligungs-, Wirkungs- und Resonanzerfahrungen beigetragen werden? Wie werden partizipationsferne Bevölkerungsgruppen erreicht?
Gelingt durch die diskursive Aufwertung von (digitaler) Beteiligung eine partizipative Wende, die die repräsentative Demokratie re-legitimiert und demokratische Prinzipien stärkt – die Sozialkapital in Form von Brücken- und Bindungskapital aufzubauen vermag und gesellschaftlichen Zusammenhalt befördert? Inwieweit wird die Gefahr reflektiert, politische, sozioökonomische und soziokulturelle Strukturen, die ungleiche Beteiligungschancen bislang bedingen, zu reproduzieren und durch ungleiche digitale Infrastruktur- und Bildungszugänge zu verschärfen?
Theoretischer Rahmen
Das Forschungsprojekt setzt sich mit demokratietheoretischen und radikaldemokratietheoretischen Perspektiven auf Partizipation, Deliberation und politische Kommunikation auseinander. Die Ambivalenzen partizipativer Politik- und Demokratiegestaltung diskutierend, ist es durch kritische Theoriediskurse der Governance-, Gerechtigkeits- und Stadt- bzw. „Recht auf Stadt“-Forschung angeleitet. Letztere zeigt auch auf, wie digitale Infrastrukturen emanzipativ genutzt werden können. Sie rückt Akteur*innen in den Fokus, die durch ihre Praktiken eine solche emanzipative Nutzung digitaler Infrastrukturen vorleben und politisch einfordern.
Wissenssoziologische Diskursperspektive und qualitative Methode
Eine wissenssoziologische Diskursperspektive zu Grunde legend, rekonstruiert das Projekt den ineinandergreifenden Beteiligungs- und Digitalisierungsdiskurs. Untersucht wird, inwiefern sich der Beteiligungsdiskurs im Kontext der Digitalisierung verschiebt. Dabei werden die Diskurs- und Politik (mit)gestaltenden Akteur*innen im Bereich der kommunalen Politik bzw. Verwaltung, der Zivilgesellschaft sowie der Politischen Bildung und sozialen Arbeit fokussiert. Die Analyse bezieht sich auf (digital unterstütze) Beteiligungsprozesse im Zusammenhang der Stadtentwicklung und auf die Digitalisierung als Gegenstand von Beteiligung. Methodisch stützt sich die Untersuchung auf die Textanalyse sowie auf die Erhebung und Analyse qualitativer Interviews.
Keller, R. (2008): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Projektteam: Prof. Thilo Fehmel, Dr. Lisa Schlegel
Projektlaufzeit: 1.10.2019 – 31.12.2021
Finanzierung: Sächsisches Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus